Tag 8

In der Stadt Kirkenes leben rund 3000 Einwohnerinnen und Einwohner aus 65 (!) Nationen. Der Ausländeranteil beträgt 30 Prozent. Grund für die hohe ethnische Diversität ist die Nähe zur russischen Grenze. Vor dem Ukrainekrieg war die Stadt Zentrum eines intensiven Handels zwischen Norwegen und Russland. Norwegische Fischer fuhren in russische Gewässer, Russinnen und Russen kamen zum Arbeiten nach Norwegen. Grenzgänger gehörten hier zum Alltag.

Zudem schob Russland an dieser Stelle regelmässig Flüchtlinge in den Westen ab. Menschen aus arabischen und asiatischen Löndern, aus Afganistan, Iran, Irak, Nepal, Vietnam, Pakistan flüchteten nach Russland und wurden von Schleppern an die nördliche Nato-Grenze an der Barentssee gebracht. Mit Transportern, Personenwagen, ja sogar mit Velos kamen sie dann über die Grenze und wurden von Schleppern nach Zentraleuropa gebracht. Viele blieben auch in Kirkenes hängen und trugen mit ihrer Arbeitskraft sowie ihrem Know-how zur Prosperität der Stadt bei.

Für Touristen und Normalbürgerinnen/Normalbürger ist die Grenze seit Beginn des Ukrainekriegs geschlossen. Besuche sind nur noch für militärische Inspektoren, politische Funktionäre, Teilnehmende an Kulturaustauschprogrammen sowie Religionsvertreter (Pfarrer, Bischöfe und Patriarchen) erlaubt. So feiern russisch-orthodoxe Kirchenvertreter regelmässig Messen auf norwegischer Seite: Am Pasvikelva-Fluss hatte im 16. Jahrhundert der russische Mönch Trifon in einer Höhle gelebt und für die Lappen Gutes getan. Seiner wird alljährlich am Fluss gedacht.

In orange Wärme-Rettungswesten gekleidet, fahren wir mit dem Norweger Hans (70), dem Eigentumer von „Berentssafari“, auf dem Pasvikelva-Fluss südwärts. Am Eingang zur Höhle von Mönch Trifon bestaunen wir eine Ikone und hören seine Geschichte. 300 Jahre später baute der orthodoxe Pfarrer Boris Gleb flussaufärts eine Kirche. Das hözerne Gotteshaus steht heute auf der russischen Seite der Grenze. Nach zwanzig Minuten rasanter Schifffahrt erreichen wir eine Holzplattform. Wir steigen aus und geniessen die Rundsicht und einen wärmenden Kaffee.

Nun folgt eine Grenzerfahrung ganz eigener Art: Direkt hinter der Holzplattform befindet sich die norwegisch-russische Landesgrenze, die auch die Nato- und die Schengengrenze ist. Ein gelber und ein roter Pfahl markieren den Ort. Kein Zaun, kein Soldat, kein Schweinwerfer: Wenn da nicht zwei bemalte Pfähle wären: ich hätte die Grenze gar nicht bemerkt. Geduldig macht Hans Fotos von uns.

Mit strenger Stimme macht uns der Guide aufmerksam, dass das unerlaubte Passieren der Grenze mit einer Busse von 3000 Euro geahndet wird. Diesen Betrag habe vor einem Jahr ein deutscher Tourist bezahlt, als er die Staatsmacht zu provozieren versuchte. Elektronische Überwachungssysteme kontrollieren jeden Meter der Grenze und schlagen Alarm, wenn sie einen Verstoss gegen das Grenzabkommen festellen. In diesen Fällen werden die beiden lokalen Komissäre eingeschaltet, die auf norwegischer und russischer Seite die Angelegenheit lokal regeln. Weder Moskau noch Oslo erfahren von solchen „Banalitäten“.

Wieviele russische Soldaten auf der anderen Seite stationiert seien, will ein amerikanischer Rentner, aufgrund seiner Mütze als „Veteran“ erkennbar, wissen. „ Gar keine“ lautet die Antwort von Tour-Guide Hans. Die Russen hätten die hier stationierten Grenztruppen zu Beginn des Ukraine-Feldzuges abgezogen und in die Ukraine verschoben. Beim versuchten Sturm auf Kiew (Panzerkolonne) seien viele der Beeringssee-Soldaten in ihren Fahrzeugen verbrannt. Der Norweger muss es wissen: Er arbeitete dreissig Jahre lang für die norwegische Luftwaffe.

Hans mahnt zum Aufbruch. Unser Schiff „Kong Harald“ wartet nicht. Beindruckt von der einmaligen Grenzerfahrung treten wir die Rückfahrt an. Vorbei geht es an der Höhle von Mönch Trifon, der im 16. Jahrhundert so viel Gutes getan hat. Ein Gedanke geht mir durch den Kopf: Warum kann nicht „Mönch Putin“ mal was Gutes tun und den unsäglichen Ukraine-Krieg endlich beenden?