Bergseeli im Härdöpfelstock (Der Bund 1.3.23)
Kindheit auf dem Teller Im Bellevue Parkhotel in Adelboden kommen einmal pro Woche die Lieblingsgerichte der Hotelgäste aus der Vergangenheit auf den Tisch. Ein Plädoyer für entspanntes Essen.
Claudia Schmid (Text) und Christian Pfander (Fotos)
Warum ist das Einfache oft besser als das Besondere? Mussten Sie als Kind essen, was auf den Tisch kam? Warum kocht das Grosi eigentlich besser als der Sternekoch?
Wer im Gourmetrestaurant im Bellevue Parkhotel & Spa in Adelboden das Menü «Der Geschmack der Kindheit» bucht, findet auf dem Tisch lauter Fragen zum Thema kulinarische Kindheitserinnerungen. Allerdings – das zeigt ein Testbesuch in einer kleinen Gruppe – ist das emotionale Thema ein Selbstläufer.
Noch bevor alle Fragen gelesen sind, gibt ein Bekannter eine Anekdote zum Besten, wie er als Kind vor der versammelten Verwandtschaft den verhassten Milchreis in die Backen stopfte und später Ohnmacht simulierte, um das Gericht nicht essen zu müssen. Die Autorin erzählt von den geliebten Forellen, die ihr Grossvater aus dem Greyerzersee zog und die ihre Grossmutter umgehend und ganz im Ofen zubereitete, begleitet von weichen Salzkartoffeln.
Franziska Richard, Direktorin des familiengeführten Bellevue Parkhotel, erzählt, dass sie und ihr Team schon länger von gastronomischen Kindheitserinnerungen fasziniert seien. «Mit den ersten kulinarischen Erfahrungen erschliessen wir die Welt», sagt sie. Schliesslich beginnt das kulinarische Vergnügen im Kopf, nicht im Mund.
Sie erzählt, wie ihre Mutter ihr und ihren Geschwistern jeweils ein «Gruyèreschnittli» zubereitete – mit Butter bestrichenes Weissbrot, belegt mit geraspeltem Greyerzerkäse und Schnittlauch. Die Erinnerung spielte sich vor Ort ab – Richard ist im Hotel, dem sie heute vorsteht, aufgewachsen.
Aus der ganzen Schweiz
Dem «Geschmack der Kindheit» ging eine Gästebefragung voraus. Im Winter vor einem Jahr wurden etwa 500 Personen – die Hauptkundschaft stammt aus der Schweiz – vom Hotelteam nach ihren Lieblingsspeisen aus der Kindheit gefragt. Daraus entstand eine Best-of-Liste.
Aus diesem Fundus stellt Jürgen Willing, der Küchenchef des Parkhotels, einen Mehrgänger zusammen, den er mit weiteren Kindheitsklassikern ergänzt. Das Menü, begleitet von in Vergessenheit geratenen Weinen wie Beaujolais, ist jeweils am Donnerstag erhältlich.
Zu den meistgenannten Speisen der Umfrage, die in wechselnden Formationen beim Mehrgänger auftauchen, zählten unter anderem Rahmschnitzel mit Nudeln, Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti, Pilzschnitte, Siedfleisch und Tafelspitz, Pastetli mit Bratchügeli, Berner Platte oder Rindsschmorbraten mit Kartoffelstampf.
Dass die Gerichte ein Abbild der Schweizer Küche sind, zeigen auch Spezialitäten aus der Romandie. Zu diesen gehören gebratene Eglifilets (Filets de perche) oder der Waadtländer Käsekrapfen Malakoff. Auch Piccata milanese mit Spaghetti, das Schmorgericht Ossobuco oder Lasagne wurden mehrfach genannt – der Einfluss der italienischen Küche in der Schweiz ist bekanntlich auch ausserhalb des Tessins gross.
Bei den Desserts erinnerten sich die Gäste an Fotzelschnitte, Coupe Dänemark, gebrannte Crème oder Schwarzwäldertorte.
Jürgen Willing, gebürtiger Deutscher und seit bald zwanzig Jahren Küchenchef im Park-hotel, hat beim Aufarbeiten der Kindheitsgerichte die Schweizer Küche teilweise neu entdeckt. Normalerweise verarbeitet der Gourmetkoch (15 «Gault Millau»-Punkte) mit französischem Touch hochwertige Frischprodukte aus der Schweiz und teilweise aus umliegenden Nachbarregionen wie dem Elsass oder Norditalien. «Dank des Projekts mit der Kindheit habe ich mich wieder einmal so richtig mit Rösti beschäftigt», sagt Willing.
Bei vielen Gerichten aus der Kindheit, sagt Willing, gehe es um Details: Um genügend Sauce beispielsweise, mit der man das Seeli im Kartoffelstock füllen könne.
Genügend Sauce finden wir auch beim Nüsslisalat Mimosa vor, der uns beim Testessen als Vorspeise serviert wird. Er enthält neben Ei viele Speckstreifen und eine sämige, hausgemachte französische Sauce, die sich mit Brot auftunken lässt. Auch Franziska Richards geliebte Gruyèreschnittli sind Teil des Mehrgängers, so wie ein Rindsschmorbraten mit extra viel Braten-Pilzsauce. Dazu kommt ein auffallend buttriger Kartoffelstock. «Nach Grossmutter Art» trifft hier wirklich zu.
Herzhafte Küchenkultur
Das Dessert des Menüs – ein Wackelpudding mit grünem Waldmeistersirup – tauchte bei den Befragungen nicht als Topdessert auf. Der in Deutschland beliebte Pudding darf denn auch als Gag verstanden werden, der dank seines wackligen Auftritts während des Dinners von allen gefilmt und auf Instagram hochgeladen wird. Der Pudding ist auch eine Reminiszenz an Jürgen Willings Herkunft: Er wuchs im Raum Düsseldorf mit Götterspeise auf.
Dass das Küchenteam beim Nachkochen der Kindheitsgerichte eigene Erinnerungen mit einbringt, zeichnet das charmante Konzept genauso aus wie die Tatsache, dass dank des Projekts eine herzhafte und teilweise nostalgische Küchenkultur zelebriert wird, die weit über Schnipo – Schnitzel und Pommes frites – hinausgeht. Sie scheint in diesem aktuell fitnessbewussten Zeitgeist immer mehr zu verschwinden.
«Der Geschmack der Kindheit ist eine Hommage an das Einfache und erinnert an eine Zeit, in der niemand von Lebensmittelunverträglichkeiten oder Allergien sprach», sagt Jürgen Willing. Dass er sich als Gourmetkoch auf das Projekt einlässt, ist mutig. Und so schafft er die perfekte Antithese zu einem kulinarisch oft unsinnlichen Alltag, in dem Federkohl-Smoothies und vegane Burger an der Tagesordnung sind.
Geschmack der Kindheit, ab 75 Fr. (drei Gänge), jeweils am Donnerstag, Bellevue Parkhotel & Spa, Adelboden
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