ADHS

«Viele zweifeln an der Diagnose»

Quelle: Der Bund, 8.2.23

ADHS Journalistin Angelina Boerger fand erst als Erwachsene heraus, dass sie die Aufmerksamkeitsstörung hat. Sie erkärt, wie typische Symptome einzuordnen sind, welche Rolle dabei Social Media spielt – und warum nur Fachleute eine Diagnose stellen sollten.

Moritz Marthaler (Der Bund, 8.2.23)

Frau Boerger, die Zahl von Erwachsenen mit der Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS) steigt. Warum?

Einerseits weiss die Forschung heute mehr zu ADHS bei Erwachsenen. Andererseits litt zwar während Corona die psychische Gesundheit, aber dadurch ist vielerorts – vor allem durch die sozialen Medien – ADHS überhaupt erst zum Thema geworden und hat mehr Menschen für die Störung sensibilisiert.

Wie wird sie im Erwachsenenalter diagnostiziert?

Häufig landen Erwachsene mit einer ADHS zunächst aus anderen Gründen beim Therapeuten: mit einer Depression, einer Angststörung, einem Burn-out, diesem Gefühl, dass das Kartenhaus über einem zusammenbricht und man das nicht länger aushält. Oft vermögen nur Fachleute zu erkennen, dass das die Folgen einer undiagnostizierten ADHS sind.

Und wie äussert sich die Störung bei Erwachsenen im Vergleich zu Kindern?

Der Erwachsene hat gelernt, mit seinen Symptomen umzugehen, er überspielt sie, hat sich dafür Strategien zurechtgelegt. Man nennt das Masking. Das kann hilfreich, aber auch problematisch sein, vielleicht gewöhnt man sich einen Tick an oder entwickelt eine Zwangsstörung, um etwa impulsiv-hyperaktive ADHS-Symptome zu unterdrücken, die man noch bei Kindern sofort als solche identifizieren würde.

Gerade bei Frauen und Mädchen gilt ADHS als unterdiagnostiziert. Wie kommt das?

In der frühen Forschung ging man davon aus, dass vorwiegend Jungs eine ADHS haben können. Die sichtbaren Symptome, das Vorlaute, Hibbelige tritt bei ihnen mehr auf. Bei Mädchen äussert sich die Störung anders, die Hyperaktivität ist häufig internalisiert, gegen aussen bleiben sie eher ruhig und zurückhaltend. Sie ist schwieriger zu erkennen, weil wir durch unsere Sozialisation ein solches Verhalten bei Mädchen nicht als auffällig taxieren.

Wenn man Ihr Buch liest, erkennt man in den Beschreibungen erst sich wieder, dann die Freundin, den Bruder, den Nachbarn. Ab wann spricht man von einer ADHS? Kann sie auch nur anteilig sein?

Natürlich sind Symptome wie Stress, Verträumtheit, Hyperaktivität und -sensibilität zunächst einmal einfach nur menschlich. Aber normalerweise treten sie in gewissen Phasen auf, vor der Prüfung in der Schule, in den ersten Tagen im neuen Job, bei einem persönlichen Verlust. Bei ADHS-Patienten ist es keine Phase. Bei ihnen zieht sich das durch ihr ganzes Leben.

ADHS lässt sich nicht einfach über einen Gehirnscan oder einen Bluttest diagnostizieren. Die Diagnose ist aufwendig.

Es gibt mittlerweile die Möglichkeit, gewisse Eigenheiten der Gehirnstruktur zu erkennen. Aber für eine Diagnose braucht es vor allem geschultes Personal: Viele Therapeuten sind nicht auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert. Es kommt zu Fehldiagnosen, bei Leuten wird eine Depression oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, obwohl dies nur die Folge einer übersehenen ADHS sein kann.

Oder es wird eine ADHS diagnostiziert, obwohl keine da ist.

Auch das kommt vor. Aber ich kenne mehr Fälle, in denen die Leute einfach nach Hause geschickt werden, weil vor Ort die Kompetenz für eine seriöse Abklärung fehlt. Ob vorschnell diagnostiziert wird, kann ich zu wenig gut einschätzen. Aber wenn jemand einen Leidensdruck verspürt und ihm oder ihr die Strategien helfen, die eigentlich für ADHS-Patienten entwickelt worden sind, finde ich das nicht so problematisch.

Womöglich kriegt der Patient oder die Patientin aber Medikamente, die gar nicht für ihn oder sie bestimmt sind.

Bei Verdachtsdiagnosen kommt es tatsächlich vor, dass Therapeuten ein niedrig dosiertes ADHS-Medikament verschreiben, um zu beobachten, welchen Effekt es hat. Etwa Methylphenidat: Auf ADHS-Patientinnen und -Patienten wirkt es ausgleichend. Wenn das nun jemand nimmt und denkt, hui, ich könnte jetzt drei Tage durcharbeiten, dann hat er oder sie wohl keine ADHS.

Der kanadische Psychiater Anthony Yeung machte die Beobachtung, dass tatsächliche Betroffene oft dazu neigen, ihre Symptome herunterzuspielen, während Menschen ohne ADHS diese überbetonen.

Ich kenne viele, die seit Jahren eine ADHS-Diagnose haben und bis heute daran zweifeln: Simuliere ich nur? Liegt das alles doch nur an mir?

Auf Ihrem Instagram-Kanal @kirmesimkopf haben Sie Tausende Follower. Es gibt auf Social Media auch Beiträge zu ADHS, in denen Symptome auf problematische Weise verknappt werden.

Mein journalistischer Anspruch ist es, meine Quellen seriös zu prüfen. Auch ich muss für Social Media verknappen, aber ich würde vor der Kamera nie etwas sagen wie: «Wenn du immer wieder einen Ohrwurm hast, hast du ADHS, lass dich untersuchen.»

Aber sind Sie nicht Teil des Problems, wenn Sie in Ihren Videos die «vorzeigbaren» Seiten von ADHS wie Zappeligkeit oder Unproduktivität in den Vordergrund stellen?

Für mich liegt die Verantwortung am Ende bei den Leuten, die in der Diagnostik darüber entscheiden: ADHS ja oder nein. Kein Video kann eine solche Diagnose ersetzen. Es lässt sich nicht beeinflussen, ob ein Mensch nach 500 Seiten Buch, 20 Stunden Therapie oder eben einem Tiktok-Video das Gefühl hat, er habe ADHS.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie regelrecht auf eine positive Diagnose hofften. Rückt das die Störung und ihre Patientinnen und Patienten nicht in ein zweifelhaftes Licht?

Für mich war das ein Moment, in dem sich sehr viele Fragen klärten und dieses unterschwellige Gefühl, dass da etwas ist, einer Gewissheit wich. Diesen Kontrast zwischen Situationen, in denen man nicht hinterherkommt, und Dingen, die einem enorm leichtfallen, erlebt man schon im Kindesalter. Wenn man dann erfährt, dass die Ursache etwas Neurologisches ist, ist das ungemein erleichternd.

Was ist seit Ihrer Diagnose besser?

Ich weiss jetzt einfach, dass da Dinge sind, die ich nicht beeinflussen kann. Durch die Diagnose bekommt man den Zugang zu einem Hilfesystem mit Bausteinen wie Psychoedukation, Psychotherapie, medikamentöser Therapie, Selbsthilfegruppen, Beratung. So können Betroffene ihr Leben nach ihren Bedürfnissen anpassen. Für mich steht am Ende der Diagnose eine tiefe Selbstakzeptanz. Heute spüre ich: Ich war noch nie mehr ich selbst.

Viele Symptome erscheinen sehr allgemein: tiefe Frustrationstoleranz, Prokrastination, Konzentrationsstörungen. Wie fühlt sich das für Sie an?

Die Symptome treten intensiver, regelmässiger auf. Das hat Einfluss auf den Selbstwert, das Selbstbewusstsein. Darunter leiden Menschen mit ADHS wahrscheinlich am meisten: das Gefühl zu haben, nicht mithalten zu können, egal, wie sehr man sich verbiegt. Jemand ohne ADHS bekommt keine Panikattacke und keinen Nervenzusammenbruch, wenn er nur ab und zu mal vergisst, den Herd abzuschalten, wichtige Termine verpasst oder sich aussperrt.

Was hilft neben Medikamenten? Schreibt man sich Abgabetermine eine Woche vorher ein und klebt die Wohnung mit Post-its zu – so, wie sich halt viele Menschen behelfen?

Viele Bewältigungsstrategien entwickelt man unbewusst und behält man bei. Wobei es auch ungesunde Strategien gibt, die man ersetzen muss – manche Betroffene kompensieren etwa mit Suchtmitteln (Nikotin, Alkohol, Cannabis, Medikamente), Binge-Eating, exzessivem Medienkonsum oder anderem selbstschädigendem Verhalten.

Oft entwickeln Betroffene psychische Erkrankungen, Mediziner sprechen dann von Komorbiditäten, die hohe Kosten verursachen. Warum?

Zunächst ist es wichtig, zu erwähnen, dass ADHS keine Erkrankung ist wie etwa eine Depression, sondern eine Störung, die nicht geheilt werden kann. Je früher man sie erkennt, desto geringer die Behandlungskosten. Komorbiditäten führen ebenso zu mehr Kosten – wenn man sie frühzeitig erkennen würde, fielen diese weg. Wir hätten eine andere Gesellschaft, wenn wir mehr Wissen, Akzeptanz und Behandlungsmöglichkeiten für ADHS hätten.